Max Fischler

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HIER WOHNTE
MAX FISCHLER
JG. 1929
KINDERTRANSPORT 1939
SCHWEDEN

 

Die Herkunft der Familie Fischler und die Übersiedelung nach Graz

Das Europa des 19./20. Jahrhunderts wurde geprägt durch zahlreiche kleinere und größere Migrationsbewegungen. Auch die Stadt Graz, insbesondere ihre demographische und sozioökonomische Struktur, veränderte sich durch Wanderungsbewegungen und mit dem Wachstum der Stadt stetig. Vor dem Ersten Weltkrieg war ein großer Teil der städtischen Bevölkerung nicht in Graz geboren und viele davon  lebten erst seit wenigen Jahren in dieser Stadt.[1] Unter diesen Zugezogenen waren überproportional viele Jüdinnen und Juden aus allen Teilen der Habsburgermonarchie. Das europäische Diaspora-Judentum weist von jeher eine transterritoriale Grundtendenz und hohe Mobilität auf. Durch die allgemeine Entwicklung um die Jahrhundertwende und mit der zunehmenden Urbanisierung verließen viele Menschen ihre Heimatgemeinden und zogen in die Städte, die mit besseren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Möglichkeiten und Anreizen lockten.[2] Im Ersten Weltkriege kamen rund 2.000 jüdische Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina zumeist mittellos nach Graz. Sie waren vor den zaristischen Armeen, die diese Regionen besetzt hatten, geflohen und waren auf Unterstützung angewiesen.[3]

Berl (Bernhard) Fischler wurde in Kimpolung, einer Stadt an der Moldau im heutigen Rumänien, als Sohn von Meyer und Blima Fischler geboren.[4] Der gleichnamige ehemalige Gerichtsbezirk Kimpolung lag im habsburgischen Kronland Herzogtum Bukowina und wies eine große jüdische Gemeinde auf. Am Ende des Ersten Weltkrieges kam er als Soldat der k. u k. Armee nach Graz. Bernhard Fischlers Name scheint im Grazer Melderegister erstmals im Jahre 1917 auf. Er war ab dem 16. April 1917 beim Gastwirten Karl Jost in der Wartingergasse 15 gemeldet und bewohnte ein Zimmer im Parterre. Als Voradresse wurde „Andritz“ angegeben, es konnte jedoch nicht eruiert werden, wie lange Bernhard Fischler sich bereits in der Steiermark aufgehalten hat. Eine Abmeldung fand nicht statt – ein Umstand, der in Berl Fischlers späteren Eingemeindungsverfahren zu Komplikationen führte. Ein zweiter identischer Eintrag wird mit 7. Juni 1921 datiert.[5]

Meldezettel Berl Fischler Quelle: Archiv der Stadt Graz

Meldezettel Berl Fischler
Quelle: Archiv der Stadt Graz

 

Berl Fischler war in dieser Zeit als „Hausierer“ – als Straßenverkäufer – tätig, der seine Waren (in der Regel Gebrauchsgegenstände des alltäglichen Bedarfs) von Haus zu Haus feilbot und umherreiste. Anfang April 1921 fuhr Berl Fischler für mehrere Wochen nach Polen und heiratete in Drohobycz am 17. April 1921 seine Frau Rosa, geb. Egert.

Rosa Fischler war die Tochter von Sische Egert und Scheindel (geb. Lichtenstein). Sie wurde am 15. August 1893 in Stara Wies, einer kleinen Gemeinde im galizischen Gerichtsbezirk Drohobycz geboren.[6] Rosa Fischlers Großeltern mütterlicherseits waren Munish Lichtenstein (geb. 1833) und Malka Lichtenstein, geb. Brings (geb. 1837).

Um die Jahrhundertwende hatten sich zwei von Rosa Fischlers Onkeln entschlossen, von Drohobycz mit ihren Familien nach Graz auszuwandern.[7] Es ist zu vermuten, dass der Kontakt zwischen Berl Fischler und Rosa über diese verwandtschaftlichen Beziehungen zustande kam.

Die Region um Drohobycz erlangte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitreichende Bekanntheit als bedeutendes Zentrum der Erdölförderung und Fördertechnik.[8]  Die zunächst tausenden händisch gegrabenen Schächte wurden hier ab 1865 – weltweit erstmals – durch Bohrtürme abgelöst. Dies machte Österreich-Ungarn um 1910, nach den USA und Russland, zum drittgrößten Ölproduzenten der Welt.[9] Das Leben wird in dieser Zeit als rau und wenig erstrebenswert beschrieben und die Region bekam den Beinamen „Galizische Hölle“. Das Land war von Ölbohrtürmen übersät, zwischen denen Rinnsale aus schmutzigem, ölverseuchten Bohrwasser flossen. Die Luft stank nach Öl und Paraffin und die Straßen waren nicht asphaltiert. Die Holzhäuser, vielfach unter Straßenniveau versunken, standen eng beieinander und waren stetig in Gefahr ein Opfer der häufigen Brände zu werden, die von den sich entzündeten Ölpfützen der Stadt ausgingen.[10]

Das Leben in Graz und die Flucht aus Graz

Nach der Rückkehr des frisch vermählten Ehepaares bezogen Berl und Rosa Fischler zunächst Berls altes Zimmer in der Wartingergasse 15. Hier waren sie ab dem 7. Juni 1921 gemeldet. Ende Juli 1921 übersiedelten sie einige Häuser weiter in eine Wohnung in der Wartingergasse 9/II bei einer Frau Gertrude Mayerhold.[11] Bereits knapp neun Monate später kam ihr erstes Kind auf die Welt. Selma Schulamit Fischler wurde am 23. Februar 1922 geboren. Am 26. November 1929 kam ihr zweites Kind Max Fischler zur Welt. Zu dieser Zeit arbeitete Berl Fischler beim Onkel seiner Frau Max Lichtenstein als Handelsvertreter in der Firma Max Lichtenstein u. Co. Dieser hatte in den 1920er Jahren ein kleines Konfektionsgeschäft am Lendkai 15.

Am 15. Mai 1929 stellte Berl Fischler einen Antrag zwecks Aufnahme in den Gemeindeverband an den Grazer Stadtrat.[12] Die Bestimmungen zum Heimatrecht sahen vor, dass man es durch „Ersitzung“ erlagen konnte, wenn man in den letzten zwölf Jahren einen freiwilligen und ununterbrochenen zehnjährigen Aufenthalt nachweisen konnte. Im Fall von Berl Fischler, der seinen Aufenthalt nicht lückenlos nachweisen konnte, wurde der Antrag zunächst abgelehnt.[13]

Obwohl die Judenfeindlichkeit und der Antisemitismus in Graz nach dem Ersten Weltkrieg stetig präsent waren und in Politik wie Gesellschaft in verschiedenen Formen auftrat, war die Auswanderung der Grazer Jüdinnen und Juden vor 1938 kein Massenphänomen.  Der März 1938 stellt in dieser Hinsicht sicherlich eine Zäsur dar. Das Bild von Graz als „Stadt der Volkserhebung“ verdichtete sich aber bereits vor dem 12. März 1938, als die Nationalsozialisten zu Demonstrationen aufriefen und ihre antisemitischen Parolen grölen konnten, sowie die Geschäftstätigkeit der jüdischen Geschäfte störten.

Die Familie Fischler erkannte, dass sie in Graz keine Zukunft mehr hatte und bemühte sich, das Land so schnell wie möglich zu verlassen.  Auf Grund der restriktiven Haltung potentieller Aufnahmeländer und Schikanen der nationalsozialistischen Führung erwies sich das allerdings als schwierig. Besonders die Aufnahme ganzer Familien wurde von den Aufnahmeländern häufig nicht akzeptiert. In dieser Zwangslage bemühten sich jüdische Familien daher zunächst einmal, wenigstens ihre Kinder in das sichere Ausland zu bringen, um ihnen dann womöglich auf anderen Wegen zu folgen.[14] So konnte sich Selma Fischler, die in Graz als kaufmännische Praktikantin gearbeitet hatte, über die sogenannte Jugend-Alija (Organisation für die Einwanderung nach Palästina von Jugendlichen zwischen 15 und 17 Jahren) nach Palästina in Sicherheit bringen. Selma durfte mittels eines Studenten-Visums für Palästina aus Österreich ausreisen und verließ mit der Eisenbahn am 2. November 1938 Österreich. Sie gelangte über Tarvisio nach Triest und konnte sich auf der Galilea in Richtung Palästina einschiffen, wo sie schließlich am 7.11.1938, zwei Tage vor der Novemberpogromnacht, in Haifa eintraf. Selma Fischler blieb nach dem Krieg in Palästina.[15]

Reisepass Selma Fischler Quelle: Max Fischler Privatarchiv

Reisepass Selma Fischler
Quelle: Max Fischler Privatarchiv

 
Nicht nur Selma Fischler verließ Europa über den Hafen Triest und konnte nach Palästina, ihrem „Eretz Israel“, flüchten.[16] Die Schifffahrtlinie Lloyd Triestino bediente mit den beiden Schwesterschiffen Galilea und Gerusalem die Linie Triest-Haifa (mit zahlreichen Zwischenstationen). Bevor die Ausreise aus Europa sowie die Einreise nach Palästina immer schwieriger wurde, konnten tausende Jüdinnen und Juden auf diesem Weg der Ermordung entgehen.

Lloyd Triestino: „Galilea” http://www.ww2wrecks.com/portfolio/galilea-the-1942-shipwreck-that-took-the-lives-of-over-1000-italians/

Lloyd Triestino: „Galilea”
Quelle: www.ww2wrecks.com

 
Für ihren neunjährigen Sohn Max konnten Berl und Rosa Fischler eine Fluchtmöglichkeit im Rahmen der Jüdischen Kultusgemeinde in Stockholm. Diese Gemeinde konnte zusammen mit den anderen jüdischen Gemeinden in Schweden zirka 500 Kinder aus Deutschland und Österreich nach Schweden bringen[17]. Max Fischler erreichte im April 1939 Skandinavien.[18] Er überlebte ebenfalls den Krieg, wuchs in Schweden auf und lebt noch heute in Stockholm.

Die Lebensbedingungen in Österreich und Graz wurden für Jüdinnen und Juden immer bedrohlicher und unerträglicher. Viele versuchten immer verzweifelter nach einer Möglichkeit das Land zu verlassen. Man wandte sich zumeist an die Israelische Kultusgemeinde, die versuchte Auswanderungsmöglichkeiten zu organisieren. Die Menschen waren bereit jede Destination zu akzeptieren, sofern damit eine möglichst rasche Ausreise erzielt werden konnte. An die zwei Drittel der Grazer Jüdinnen und Juden fand in anderen Ländern Zuflucht. Europäische Emigrationsländer waren Großbritannien, die Schweiz, und bis zu ihrer eigenen Besetzung Frankreich, die Tschechoslowakei, die Beneluxstaaten und Italien.

Berl und Rosa Fischler erhielten eine Ausreisegenehmigung und ein Visum für Italien. Sie konnten am 5. Juli 1939 ausreisen und Österreich verlassen. Mehrere Einträge in ihren Pässen zeigen, dass sie noch versucht haben, ihre Flucht fortzusetzen. Jedoch strandeten Berl und Rosa Fischler nach Kriegsbeginn in der Region Mailand. In den Jahren 1940 und 1941 wurden dort bei beiden die Pässe im deutschen Konsulat verlängert. In Mailand wurde Berl auch von seiner Frau getrennt und es verliert sich die gemeinsame Spur.[19]

Reisepass Berl Fischler Quelle: Max Fischler Privatarchiv

Reisepass Berl Fischler
Quelle: Max Fischler Privatarchiv

 
Berl Fischler wurde in der Provinz Teramo interniert.[20] In dieser Region existierten mehrere Lager des faschistischen Regimes, die im Juni 1940 errichtet wurden.[21] Bis September 1943 blieben Jüdinnen und Juden aus Österreich, Deutschland und Polen in diesen Lagern. Am 26. Oktober 1943 wurden auf Anordnung des deutschen Kommandos männliche Insassen zur Zwangsarbeit herangezogen. Es ist durchaus möglich, dass Berl Fischler unter diesen Zwangsarbeitern war und sich später durch Flucht in den Untergrund einer weiteren Deportation entzog. Er überlebte den Krieg und konnte im Jahr 1948 nach Israel ausreisen.[22]

Laut einen Eintrag im „Buch der Erinnerung“[23] wurde Rosa Fischler am 8.2.1944 in Varese (Norditalien) verhaftet und  ins Konzentrations- und Durchgangslager Fossoli di Carpi verlegt. Von hier aus wurde sie mit dem Transport 9 am 5. April 1944 nach Auschwitz deportiert. Als Ankunftsdatum wird der 10. April 1944 angegeben.[24] Rosa Fischler wird in Auschwitz ermordet.

Yad Vashem Gedenkblatt Rosa Fischler, Inventarnummer 1532659

Yad Vashem Gedenkblatt Rosa Fischler, Inventarnummer 1532659

 

 
Recherche und Biografie: Heribert Macher-Kroisenbrunner, MA

Quellen:

[1] Vgl. Gerald Lamprecht: Fremd in der eigenen Stadt. Die moderne jüdische Gemeinde von Graz vor dem Ersten Weltkrieg (Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 8), Innsbruck-Wien-München-Bozen 2007, 72.

[2] Ebda, 73. Mit dem Verlassen ihrer ursprünglichen Heimatgemeinden gaben die Menschen auch ihr sogenanntes Heimatrecht und somit ihren Anspruch auf Sozialhilfe, Unterstützung und das Recht, bei Kommunalwahlen ihre Stimme abzugeben, auf.

[3] Vgl. Otto Rendi, Zur Geschichte der Juden in Graz und in der Steiermark, Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark, Jg.62 (1971), S. 159.

[4] Die Geburtsdaten, Adressen, Schreibweise der Namen stammen aus verschiedenen Quellen: historische Meldedaten, Gewerbeakten, Restitutionsverfahren, Matriken, verschiedenen Ansuchen und Eingaben, sowie aus Übermittlung durch noch lebende Verwandte. Sie können fallweise auch voneinander abweichen. In diesen Fällen hat sich der Autor für die plausibelste und stringenteste Variante entschieden.

[5] Archiv der Stadt Graz, Akt „Heimatschein Bernhard Fischler“.

[6] Zum Familienstammbaum der Familie Wandner/Egert siehe: https://www.geni.com/people/Scheindel-Wandner/6000000034200501012 [Abruf: 5.10.2020].

[7] Es handelt sich hierbei um Rachmiel (Emil) Lichtenstein und Moses Melech (Max) Lichtenstein. Im April 2019 wurden in Graz, Griesplatz 9, bereits acht Stolpersteine für die Familie Lichtenstein verlegt. Dabei handelt es sich um die Familie von Moses Melech (Max) Lichtenstein, geb. 1877, der über St. Gallen (Schweiz) zwischen 1904 und 1906 nach Graz ausgewandert ist. Für einige Mitglieder der Familie von Emil Lichtenstein wurden am 20. September 2019 weitere Stolpersteine verlegt.

[8] Siehe dazu: Sefer zikaron le-Drohobycz, Boryslaw ve-ha-seviva (Memorial to the Jews of Drohobycz, Boryslaw, and surroundings), ed. N.M. Gelber, 1959. Eine englische Übersetzung dieses Buches ist unter https://www.jewishgen.org/Yizkor/Drohobycz/Drogobych.html [Abruf: 6.9.2019] verfügbar.

Engineer Yitzhak Stiefel: ´Boryslaw as an Industrial Oil Centre and the Role of the Jews of Boryslaw in the Industry`, in: Memorial to the Jews of Drohobycz, Boryslaw, and surroundings, ed. N.M. Gelber, 1959, 177‒184.

[10] Ebda u. Pinkas Hakehillot: Encyclopedia of Jewish Communities, Poland, Volume II, Yad Vashem, translated Miriam Beckerman, ed. Valerie Schatzker, 92‒99. https://www.jewishgen.org/yizkor/pinkas_poland/pol2_00092.html [Abruf: 6.9.2019].

[11] Archiv der Stadt Graz, Akt „Heimatschein Bernhard Fischler“.

[12] Das Heimatrecht gab den Anspruch auf ungestörten Aufenthalt und auf Armenpflege im Falle der Not. Es konnte durch Amtsantritt, Ersitzung (nach 10 Jahren), Eheschließung und Abstammung erworben werden; durch 2-jährige Abwesenheit (Verschweigung) konnte man es verlieren. 1939 wurde das Heimatrecht in Österreich aufgehoben, an seine Stelle trat nach 1945 der Nachweis der Staatsbürgerschaft. Eintrag zu Heimatrecht, in: Austria-Forum; https://austria-forum.org/af/AEIOU/Heimatrecht [Abruf: 6.10.2020].

[13] Archiv der Stadt Graz, Akt „Heimatschein Bernhard Fischler“.

[14] Siehe hierzu den Eintrag Kindertransporte, in: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Kindertransporte [Abruf: 7.10.2020].

[15] Sie heiratete nach dem Krieg in Israel und ist bereits verstorben. Tel. Auskunft Max Fischler.

[16] Unter anderen konnte Rosa Fischlers Onkel Emil Lichtenstein mit Familie über diesen Weg dem NS-Regime entkommen.

[17] Ingrid Lomfors: Förlorad barndom – återvunnet liv: de judiska flyktingbarnen från Nazityskland. Göteborgs Universitet, 1996.

[18] Tel. Auskunft Max Fischler.

[19] Ebda.

[20] Ebda.

[21] Im Juni 1940 errichtete das faschistische Regime in Civitella del Tronto  und in Nereto jeweils Internierungslager. Siehe hierzu Klaus Voigt, Zuflucht auf Widerruf. Exil in Italien 1933–1945 (Band 2), Stuttgart 1993.

[22] Tel. Auskunft Max Fischler.

[23] Liliana Picciotto Fargion, Il libro della memoria: gli ebrei deportati dall’Italia (1943-1945), Mursia 1991.

[24] Ebda.

Jüdische Opfer



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