Hans Blüh

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geboren: 18.9.1912 Eggenberg bei Graz
Ende 1938 Flucht nach Jugoslawien (Zagreb)
Juli 1939 Ankunft in den USA, später Eintritt in die US-Army
1947 Geburt von Tochter Frances
21. April 1983 in New York (USA) verstorben

Hans erblickte als erstgeborenes Kind von Wilhelm und Adele Blüh im September 1912 in Graz das Licht der Welt. Zwei Jahre später wurde seine Schwester Gertrude geboren, sein jüngerer Bruder Alfred im Juli 1922.

Schon mit zwei Jahren musste Hans auf seinen Vater verzichten, der als Soldat eingezogen wurde und erst nach Ende des Ersten Weltkrieges wieder zur Familie heimkehrte. Damit wuchsen die Kinder Hans und Gertrude in ihren ersten Lebensjahren ohne Vater auf, was die Bindung zu Mutter Adele umso verstärkte.

Stolperstein Hans Blüh Foto: Alexander Danner

Stolperstein Hans Blüh
Foto: Alexander Danner

Der Nahrungsmittelmangel und die entbehrungsreiche Zeit der Weltkriegsjahre sollten für Hans langfristige Folgen haben. Aufgrund von Milchmangel erkrankte er an der Knochenkrankheit Rachitis im Kieferbereich. Jahre später, Hans war als Soldat nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland stationiert, bekam er große Probleme mit einem herausbrechenden Zahn. Die Stadt lag in Trümmern und Hans suchte einen lokalen Zahnarzt auf, da er befürchtete, dass ihm der amerikanische Militärarzt den Zahn schmerzvoll entfernen würde. Tatsächlich gelang es, den Zahn zu retten. Hans hegte keinen Groll gegen diesen deutschen Arzt, den er irgendwie auch als ein Opfer ansah, ein Opfer „in his own way“.

Nach den vaterlosen Jahren und der Geburt des jüngeren Bruders folgte der nächste Wendepunkt in Hans’ Leben. Mutter Adele verstarb Anfang August 1922 kurz nach der Geburt Alfreds, sodass Vater Wilhelm alleinerziehend die zwei älteren Kinder aufziehen musste. Die Bindung der zwei älteren Kinder zum Vater dürfte in dieser Zeit sehr eng gewesen sein, was sich daran zeigt, dass beide abwechselnd im elterlichen Bett übernachten wollten. Alfred kam in dieser Zeit zu Verwandten nach Szombathely (Steinamanger) in Ungarn, wo sich Johanna und Manó (Moritz) Lefkovits um das Kleinkind kümmerten. Johanna, Mädchenname Wurmfeld, war die Schwester von Adele Blüh. Ihre Tochter war Elsa (Elsie, Leah), die im Februar 1907 in Ungarn geboren worden war. Während die Eltern Lefkovits in Szombathely wohnten, verbrachte Elsa einige Zeit in Graz, wo sie das Restaurant der Großeltern Wurmfeld leitete. Nach dem Tod von Großvater Ignaz Wurmfeld im Jahr 1923 hatte sein Sohn Sandor (Alexander), Bruder von Adele und Johanna, den Familienbetrieb weitergeführt. Auch er verstarb bereits früh im Jahr 1927 in Graz, vermutlich nach längerer Krankheit im Spital. Seine Mutter Rosa Wurmfeld, geborene Rosenberg, verstarb fünf Jahre später, worauf Johanna den Familienbetrieb übernahm. Am 5. Juni 1930 heiratete sie in Budapest Manó Schönbrunn und emigrierte kurze Zeit später in die USA, wo die beiden in Texas ein Bekleidungsgeschäft betrieben und sich nun Schoenbrun nannten. Elsie (Elsa) verstarb im April 1993 in Tyler, Texas. Ihre Großeltern als auch Onkel Sandor wurden in Graz bestattet. Mutter Johanna wurde am 4. Juni 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Auch Vater Manó überlebte NS-Herrschaft und Weltkrieg nicht und starb im Juni 1940 in Ungarn.

Familie Blüh ca. 1960 Von links nach rechts: Gertrude und Tochter Daniela Scharfstein, Olga und Hans. Sitzend davor: Inge Blueh-Weglein mit Sonia und Roberto (c) Roberto Blueh

Familie Blüh ca. 1960
Von links nach rechts: Gertrude und Tochter Daniela Scharfstein, Olga und Hans. Sitzend davor: Inge Blueh-Weglein mit Sonia und Roberto
(c) Roberto Blueh

Vier Jahre nach dem Tod Adeles (1926) heiratete Vater Wilhelm die alleinstehende Olga Fleischer, der ab diesem Zeitpunkt die Kindererziehung oblag. Die Beziehung zwischen Hans und seiner Stiefmutter gestaltete sich jedoch schwierig. Während Olga auf Disziplinierung setzte, besonders auf gute Tischmanieren legte sie Wert, hing Hans noch sehr an seiner verstorbenen Mutter und sah seine enge Beziehung zum Vater durch die Stiefmutter bedroht. Olga wiederum war in ihrer neuen Rolle überfordert und versuchte ihre Unsicherheit durch Härte zu kompensieren. Sah sie Hans Messer oder Gabel falsch benutzen, konnte es geschehen, dass sie ihm den Teller wegnahm. An solchen Tagen suchte er das von seinen Großeltern Wurmfeld gegründete und von Elsa geleitete Fischrestaurant in der Neutorgasse auf, wo er dann verköstigt wurde. Nach Erzählung von Tochter Frances hätte ihn das bis ins hohe Alter geprägt. Beim Essen hätte er mit einer freien Hand den Teller immer so abgedeckt, als ob er ihn davor bewahren müsste, entrissen zu werden.

Während sich Schwester Trude bald mit der Stiefmutter anfreundete, rebellierte der 14jährige Hans und wurde dabei von seiner um fünf Jahre älteren Cousine Elsa unterstützt. Auch ihr Verhältnis zu Olga war konfliktreich, während zwischen Hans und Elsa eine enge Bindung existierte. Gemeinsam erlaubten sie sich den einen oder anderen Schabernack. So geschah es zum Beispiel öfter, dass die beiden ein Kaffeehaus oder eine Bäckerei aufsuchten, wo Vater Wilhelm Stammgast war. Dort bestellten sie eine Kaffeejause und ließen sie auf die Rechnung des Vaters schreiben. Man kann sich vorstellen, wie Wilhelm reagierte, als er die Rechnung begleichen sollte.

Hans verbrachte einige Zeit in Szombathely bei Tante Johanna und Onkel Manó, wo er auch die ungarische Sprache erlernte. Tochter Frances erinnert sich hier an eine Episode in späterer Zeit in New York, wo eine Ladenbesitzerin in Manhattan mit stark ungarischem Akzent Hans dazu veranlasste, auf Ungarisch zu antworten. Das hätte sowohl die Ladeninhaberin als auch ihn selbst überrascht.

Als ältester der drei Kinder Blüh sollte Hans den Familienbetrieb übernehmen. Deshalb wurde er zur Ausbildung und Praxiserfahrung ins Ausland geschickt, wo er in Deutschland und England vieles über die Schuhfabrikation erlernte. Als im März 1938 der „Anschluss“ erfolgte, hielt sich Hans gerade außer Landes auf. Nachdem sich die Situation zusehends zuzuspitzen begann und Familienmitglieder verhaftet, das Geschäft enteignet und ihnen sogar das Haus in der Annenstraße geraubt wurde, flüchtete die Familie nach Jugoslawien. Hans, Alfred und Trude emigrierten zwischen Ende September und Dezember 1938 nach Zagreb, Vater Wilhelm und Olga folgten im Frühjahr 1939.

Noch im selben Jahr gelang Schwester Gertrude und ihrem Mann Josef die Flucht nach England, Alfred gelangte mit Hilfe eines Kindertransports nach Palästina und Hans hatte das Glück eine Einreisegenehmigung in die USA zu erhalten. Ermöglicht wurde ihm das durch seine Cousine Elsie Schoenbrun, die mit ihrem Mann in Texas lebte. Sechs Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erreichte Hans im Juli 1939 mit einem deutschen Schiff die Vereinigten Staaten. Sein Vater starb zwei Jahre später im Dezember 1941 in Ljubljana, körperlich geschwächt nach Zwangsarbeit im Lager Jastrebarsko, wohin ihn die faschistischen Ustascha verschleppt hatten.

Hans Blüh als GI (c) Roberto Blueh

Hans Blüh als GI
(c) Roberto Blueh

Hans lebte zuerst in Texas und übersiedelte dann nach St. Louis, Missouri, wo er in einem Schuhgeschäft arbeitete. Auch aus dieser Zeit ist eine Episode von seiner Tochter Frances überliefert: Eines Tages hätte er eine Frau mit dunkler Hautfarbe auf die Toilette für weiße Frauen gelotst, woraufhin ihn der Geschäftsinhaber mit dem Rauswurf drohte. Als mildernder Umstand führte er an, dass Hans als Fremder noch nichts über die örtlichen Gepflogenheiten wüsste.

Später zog er nach New York, wo er seine Freunde aus Jugendtagen, Kurt Kövesi und Hans Lamberger, sowie Freundin Nelly König wiedertraf. Freundschaften, die er bis ins hohe Alter pflegte. Hans diente in der US-Army, wo er unter anderem im Nachkriegsdeutschland stationiert war. Er heiratete Fanny Lipzer (1910-1983) und im Jahr 1947 wurde Tochter Frances Bluh geboren.

Die Trennung von seinen Geschwistern und Stiefmutter Olga führte dazu, dass sich ihre Lebenswege unterschiedlich entwickelten. Während die restliche Familie in Ecuador und später Chile lebte, baute sich Hans eine Existenz in den USA auf. Trafen sich aber die Geschwister Hans und Trude in späteren Zeiten, der Altersunterschied betrug nur zwei Jahre, verfielen sie innerhalb von Minuten in ihr Verhältnis, das sie als Kinder hatten. Im Österreichisch der 1920er Jahre führten sie intensive Debatten, zur allgemeinen Erheiterung der Anwesenden.

Neffe Roberto und Hans Blüh (c) Roberto Blueh

Neffe Roberto und Hans Blüh im August 1976
(c) Roberto Blueh

Wie seine Geschwister liebte Hans frische Luft und die Natur, tat sich im Erlernen von Fremdsprachen leicht und sprach ein exzellentes Englisch, auch wenn ihn ein österreichischer Akzent ein Leben lang begleitete. Gern verwechselte er etwa „and“ mit dem deutschen „und“. Das veranlasste ihn zu der Aussage: „The only thing a refugee never loses is his accent.“

Tochter Frances beschreibt ihn charakterlich als leicht aufbrausend und als bekannt für seinen trockenen Humor. Manchmal hätte er voreilige Entscheidungen getroffen und nichts sei ihm unangenehmer gewesen, als sich zu verspäten oder auf etwas unvorbereitet zu sein. Gerne würzte er seine Ausführungen mit deutschen Redewendungen wie: „In der Kürze liegt die Würze“. Geschah etwas Überraschendes reagierte Hans oft mit Aussagen wie „Stell dir vor“ oder „unglaublich“.

Er wäre kein besonders religiöser oder gläubiger Mensch gewesen, Spiritualität stand ihm sehr fern. Jüdisch-Sein war für ihn mehr ein Faktum von Identität, nicht jedoch gekoppelt an eine spezielle religiös-kulturelle Praxis. Dennoch versuchte er immer das Richtige zu tun und sich großherzig zu verhalten. Kurz vor dem Tod bat er seine Tochter darum, weiterhin gemeinnützige Initiativen zu unterstützen.

Frances Bluh im Juni 2016 in Graz Foto Alexander Danner

Frances Bluh im Juni 2016 in Graz
Foto Alexander Danner

Als die olympischen Winterspiele im Jahr 1964 in Innsbruck abgehalten wurden, verfolgte er die Geschehnisse mit großem Interesse und Neugier. Nach Ansicht von Frances blieb Graz in seiner Vorstellung ein Garten Eden, aus dem er vertrieben wurde und zu dem er nie wieder zurückkehren konnte. Dennoch hielt er sich nicht mit Wunschträumen und Spekulationen auf, wie das Unglück des Jahres 1938 zu verhindern gewesen wäre, sondern fand sich mit der Realität ab. Hass war für ihn die Wurzel allen Übels. Die Wunden, die seiner Familie in Graz zugefügt wurden, blieben jedoch ein Bestandteil seines Lebens. Auch wenn er sich in den Vereinigten Staaten nie ganz zuhause fühlte, den Wunsch, in späteren Jahren nach Graz zurückzukehren, verspürte er nie.

Am 21. April 1983 schied Hans Bluh in New York (Flushing, Queens) aus dem Leben – drei Monate nach dem Tod seiner Frau Fanny.

Seine Tochter Frances meint angesichts der Stolpersteinverlegung im Juni 2016: „If he could hear me now, here in Graz, he would say, ‚Stell dir vor, unglaublich‘.“

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