Josef (José) Scharfstein

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geboren: 1.6.1905 in Suczawa (Bukowina, Rumänien)
Nach Ende 1. Weltkriegs Übersiedlung nach Graz
ca. 1925 Holzexport-Unternehmen Kissmann & Co mit Cousin Jakob Kissmann
1935 Heirat mit Gertrude Blüh und Umzug zu Ruckerlberggürtel 14/II
März 1938 Inhaftierung wegen „Betrugs und Devisenvergehens“
November/Dezember 1938 Freilassung und Flucht nach Jugoslawien
1940 Exil in Ecuador, später Chile
6. Dezember 2001 verstorben in Santiago, Chile
Enkel Ariel Scharfstein bei der Adresse Ruckerlberggürtel 14 (c) Alexander Danner

Enkel Ariel Scharfstein bei der Adresse Ruckerlberggürtel 14
Foto: Alexander Danner

Josef (Joschi, José) Scharfstein-Dickmann wurde am 1. Juni 1905 in Suczawa geboren, eine mittelgroße Stadt im damaligen Kronland Bukowina in der Habsburgermonarchie. Trotz der geringen Größe der Stadt wurden hier mehrere Sprachen gesprochen. Die Bukowina lag im äußersten Osten der Monarchie und grenzte direkt an Rumänien und das Zarenreich an. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Gebiet von der rumänischen Armee besetzt und am 28. November 1918 von Rumänien annektiert. Nach 1945 erfolgte dann die von der ukrainischen Bevölkerung angestrebte Teilung des Landes.

Josef hatte eine glückliche Kindheit und war Teil einer großen jüdischen Gemeinde. Die Eltern lebten streng religiös. Mit Einsetzen des Ersten Weltkriegs floh die Familie nach Wien und Josef übersiedelte später nach Graz, wohin verwandtschaftliche Kontakte bestanden.

Jakob Kissmann

Porträt Jakob Kissmann (c) Henry M. Kissman

Sein Cousin Jakob Kissmann, der aus derselben Region wie Josef stammte – geboren im Mai 1888 in Paltinossa (Păltinoasa) in der Bukowina – war nach 1918 ins neue Österreich übersiedelt. Jakob arbeitete hier für die Creditanstalt in Wien, damals die größte Bank des Landes. Sein Zuständigkeitsbereich als Sachbearbeiter umfasste die Holzhandelsbranche.

Porträt Regina Kissmann (c) Henry M. Kissman

Porträt Regina Kissmann
(c) Henry M. Kissman

 

 

Im Jahr 1921 heiratete er Regina Drimmer, die aus Krakau stammte. Nach Übersiedlung nach Graz gründete Jakob Mitte der 1920er Jahre die „Holzexport-Kommanditgesellschaft Kissmann & Co“. Geschäftspartner wurde Cousin Josef Scharfstein, der die ersten Jahre auch bei Familie Kissmann in der Siemensgasse 5 in St. Leonhard lebte. In dieser Villa war auch das Firmenbüro untergebracht. Josefs Räumlichkeiten befanden sich im zweiten Stock, eine Etage über dem Büro, wo er ein Schlafzimmer und Badezimmer besaß. Er war Teil des Familienalltags, war bei den gemeinsamen Mahlzeiten anwesend und die Kinder Heinz (Heinrich) und Ati (Beate) riefen ihn Onkel.

Inserat Kissmann & Co (c) Henry M. Kissman

Inserat Kissmann & Co
(c) Henry M. Kissman

Die Arbeitsaufteilung zwischen den Geschäftspartnern sah nun folgendermaßen aus: Während Josef für den Einkauf der Holzware bei österreichischen und später auch skandinavischen Sägewerken zuständig war, war Jakob für den internationalen Verkauf verantwortlich. Der Export erfolgte vor allem in holzarme Länder wie Italien, Griechenland, Frankreich, Libyen, Tunesien oder Eritrea. Aus diesem Grund musste Jakob Kissmann oft verreisen, weshalb er seine Familie oft wochenlang nicht zu Gesicht bekam.

Josef war in seinen frühen Zwanzigern, als er Geschäftspartner in der Firma Kissmann wurde. Obwohl er keine gute Schulbildung besaß, zeichnete er sich als tüchtiger Geschäftsmann aus und hatte stets viel zu tun. Schließlich lernte er Gertrude (Trude) Blüh kennen, die Tochter des Geschäftsmannes Wilhelm Blüh, der in der Annenstraße 31 residierte. Trude war zu dieser Zeit gerade 19 Jahre alt und hatte erst kurz zuvor die Schule beendet.

Im Jahr 1935 heirateten die beiden und gründeten beim Ruckerlberggürtel 14 im zweiten Stock (Türnummer 6) einen neuen Hausstand. Seit dem 6. Juli 1935 lebten die beiden offiziell in der gemeinsamen Wohnung, die sich in unmittelbarer Nähe der Kissmanns befand.

Gemeinsam mit Regina Kissmann engagierte sich Trude bei der „Women’s International Zionist Organisation“ (WIZO), einer international tätigen, karitativen Frauenorganisation, die Geld für Spitäler und ähnliche Projekte in Palästina sammelte. Während Regina, überzeugte Zionistin, Mitte der 1930er Jahre zur Begründerin und Präsidentin der Grazer Sektion wurde, betätigte sich Trude als Sekretärin und Vereinskassiererin.

Eine weitere Verbindung der Familien Scharfstein-Blüh und Kissmann ergab sich über die Freundschaft zwischen Trudes Bruder Alfred Blüh und Jakobs Sohn Heinz Kissmann, der sich später Henry M. Kissman nennen sollte. Heinz, geboren am 9. September 1922, war im gleichen Alter wie Alfred und sie besuchten beide die Handelsakademie in der Grazbachgasse. Heinz war zuerst im Oeversee-Gymnasium eingeschrieben, wo er erste Erfahrungen mit dem allgegenwärtigen Antisemitismus gemacht hatte. Jüdische SchülerInnen wurden schikaniert und nicht selten körperlich attackiert, während manche LehrerInnen aus ihren antisemitischen Einstellungen keinen Hehl machten. Aus diesem Grund entwickelte sich ein enges Verhältnis zwischen den wenigen jüdischen SchülerInnen, die sich zunehmend in einer feindlichen Umgebung wiederfanden.

José (Josef) Scharfstein (c) Roberto Blueh

José (Josef) Scharfstein
(c) Roberto Blueh

Schon früh erkannte Josef die Bedrohung im Aufstieg des Nationalsozialismus und wollte Emigrationsvorbereitungen treffen. Dies stieß jedoch innerhalb der jüdischen Gemeinde in Graz vor dem „Anschluss“ noch auf völliges Unverständnis. Im März 1938 wurden die Befürchtungen Realität: Ehefrau Trude wurde wenige Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht als Sekretärin des Wohltätigkeitsvereins B’nai B’rith bzw. des zionistischen Vereins WIZO inhaftiert, ebenso wie Präsidentin Regina Kissmann. Beide Organisationen hatten keinen Bezug zur österreichischen Politik und wurden nur deshalb zum Ziel, da sie als jüdisch galten.

Auch das Geschäft Kissmann wurde von den NS-Behörden konfisziert und beide Geschäftspartner, kurze Zeit nach Abholung der Frauen, in Haft genommen. Ihnen wurden „Betrug und Devisenvergehen“ (Steuerhinterziehung) beim Holzexporthandel vorgeworfen. Ein Kommissär in brauner SA-Uniform übernahm daraufhin die Leitung der Firma und richtete sich selbst im Büro ein. Am Tag der Verhaftung von Jakob Kissmann begann die „Überprüfung“ der Firma und zwei Ermittler durchsuchten in Zivilkleidung das Haus nach Beweisen, nahmen dabei diverse „Beweisstücke“ mit.

Nach etwa sechs Wochen (Ende April) wurde die Anklage gegen Regina und Trude fallengelassen und beide aus dem Gefängnis entlassen. Ihre Ehemänner blieben jedoch die nächsten neun Monate in Haft, bis ihre Firma fast vollkommen veräußert war. Alle Güter wurden abverkauft, die Auslandskonten aufgelöst und das Unternehmen danach stillgelegt. Nachdem kein Vergehen der Geschäftspartner nachgewiesen werden konnte, wurden beide im November bzw. Dezember 1938 mit der Auflage entlassen, das Land innerhalb einer Woche zu verlassen.

Josef war zur Zeit seiner Inhaftierung so verzweifelt, dass er Schlaftabletten sammelte, um sich bei einem drohenden Abtransport in ein Konzentrationslager selbst das Leben zu nehmen. Auch Cousin Jakob Kissmann wirkte beim Besuch seiner Familie im Gefängnis krank, niedergeschlagen und unrasiert. Durch die lange Haftzeit entgingen sie jedoch einem Abtransport nach Dachau, der allen jüdischen Männern nach der Pogromnacht am 9./10. November 1938 bevor stand.

Schon im Juli 1938 musste Gertrude ihre Wohnung verlassen und zu ihrem Vater Wilhelm und Stiefmutter Olga Blüh in die Annenstraße 31 ziehen. Josef kam zwischen 18. November und Mitte Dezember 1938 frei, der genaue Zeitpunkt ist nicht ermittelbar. Haftkaution stellte sein Schwiegervater Wilhelm Blüh Mitte November in der Höhe von RM 40.000,-. Damit ermöglichte er Schwiegersohn und Tochter die Flucht, die sich als HolzarbeiterInnen verkleidet nach Zagreb (Jugoslawien) durchschlagen konnten. Mit dem 10. Dezember 1938 galten sie offiziell aus Graz abgemeldet.

In Jugoslawien erhielten Josef und Trude Pässe ohne stigmatisierendes „J“ für jüdisch und flüchteten weiter nach Italien. Am Grenzübergang kam es zu einem Intermezzo mit einem Angehörigen der italienischen Faschistengarde, der sie schlussendlich aber weiterreisen ließ. Beide erreichten London und suchten um Visa für Australien an. Schließlich erhielten sie welche für Ecuador, während sie noch in England verharrten. Die Reise nach Südamerika per Schiff dauerte mehrere Wochen, währenddessen sie nur einige Brocken Spanisch lernen konnten.

Familie Blüh ca. 1960 Von links nach rechts: Gertrude und Tochter Daniela Scharfstein, Olga und Hans. Sitzend davor: Inge Blueh-Weglein mit Sonia und Roberto (c) Roberto Blueh

Familie Blüh-Scharfstein ca. 1960
Von links nach rechts: Gertrude und Tochter Daniela Scharfstein, Olga und Hans Blüh. Sitzend davor: Inge Blueh-Weglein mit Sonia und Roberto
(c) Roberto Blueh

Auch Familie Kissmann gelang die Flucht ins Ausland. Jakob und Regina überquerten noch im November 1938 die Grenze nach Jugoslawien, wobei sie nur mehr wenige Kleidungsstücke und Gegenstände ihr Eigen nennen konnten. Bankkonten, Aktien, Einrichtungen und Wertgegenstände waren ihnen zuvor von den Nationalsozialisten geraubt worden. Sohn Heinz gelangte im Herbst 1939 nach England, wo er seinen Namen in Henry Marcel Kissman anglisierte, bevor er in die Vereinigten Staaten emigrierte. Bei Kriegsbeginn lebten seine Eltern noch in Nantes (Frankreich) als Flüchtlinge, nachdem sie zuvor Italien passiert hatten. Später gelang ihnen die Emigration nach Großbritannien.

Josef, der sich dann José nannte, und Gertrude Scharfstein bauten sich eine Existenz in Guayaquil (Ecuador) auf, wo auch ihr erstes Kind Denis geboren wurde. Zu dieser Zeit war José noch äußerst besorgt, war doch die Wehrmacht im Frühsommer 1940 in Paris einmarschiert und Hitler am Höhepunkt seines Erfolges. Er stellte sich die Frage: Macht es überhaupt Sinn, in solchen Zeiten neues Leben in die Welt zu setzen?

Gemeinsam mit seinem Bruder Moritz baute José zur selben Zeit ein erfolgreiches Uhrengeschäft auf, womit er die finanziellen Mittel besaß, seine Schwiegermutter Olga und seinen jüngeren Schwager Alfred nach Ecuador nachzuholen. Damit war es José zu verdanken, dass sich die Familie nach den unterschiedlichen Fluchtschicksalen wiederfinden konnte.

Bruder Dr. Moritz Scharfstein, Mediziner in Rumänien, gelang es gemeinsam mit seiner Frau den Nazis zu entfliehen. Nachdem sie in London angekommen waren, erhielten sie Visa für Ecuador. Darüber hinaus war es den beiden gelungen, Goldmünzen in einem Koffer mit doppeltem Boden außer Landes zu schmuggeln. Dieser Besitz bildete schließlich das Startkapital für die gemeinsame Firma der Brüder Scharfstein.

Mit dem Export-Import-Unternehmen für Uhren gelangten José und Moritz zu Wohlstand und zogen einige Jahre später wohlhabend vom tropischen Ecuador nach Chile um. Es war für die Familie schwierig geworden, sich an das Klima und an die Lebensweise in Guayaquil zu gewöhnen. Darüber hinaus galt die Stadt zu dieser Zeit als sehr unsicher. Dennoch war man froh, hier aufgenommen worden zu sein.

Josés Enkel Sergio Schlesinger und Ariel Scharfstein bei der Stolpersteinverlegung (c) Alexander Danner

Josés Enkel Sergio Schlesinger und Ariel Scharfstein bei der Stolpersteinverlegung
Foto: Alexander Danner

Chile wurde schließlich zur neuen Heimat für die Familien Scharfstein und Blüh. Einige Jahre nach dem Umzug wurde das zweite Kind, Tochter Daniela, geboren. Trotz alledem blieben José und Trude in der österreichischen Lebensweise verhaftet und erhielten später wieder ihren österreichischen Pass, womit sie in Europa reisen konnten. Graz besuchte José allerdings nie mehr.

Für die Familie Scharfstein-Blüh bildet José das einigende Band. Er hatte die verstreuten Familienangehörigen wieder vereinigen können und gab ihnen in Chile eine existenzielle Sicherheit.

Am 6. Dezember 2001 verstarb er 95-jährig in Santiago (Chile).

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